EISENBAHNGESCHICHTE, gesammelte Werke

 

00 Einführung

 

In diesem ersten Kapitel wird die Zeit vom Ende des zweiten Weltkrieges im Mai des Jahres 1945 bis zum Februar 1978 erfasst. Während dieser Zeit war der Autor noch nicht selbst als Freund der Eisenbahn aktiv. Das entscheidende Ereignis, das den Autor dieser Texte als Eisenbahnfreund sehr beeinflusst hat war der Dampflokabschied auf der Strecke von Dresden nach Berlin am 24. September 1977. Es sind auch einige Daten aus den Jahren von 1870 bis 1945 zu finden, die im Laufe der Jahre dazu kamen.

In den weiteren Kapiteln werden die Ereignisse, nicht nur der deutschen Eisenbahnen bis zur Gegenwart abgehandelt.

 

- Gerechtigkeit gegenüber historischen Vorgängen und den daran beteiligten Personen -

 

gez. GB  

11. April 2023

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01 die Vorgeschichte, die Jahre von 1870 bis 1919

 

Die erste deutsche Fahrplankonferenz

20. April 1871: In Köln startet der Neun-Uhr Zug nach München. Aber die Bahnhofsuhr zeigt erst 08.40 Uhr. Trotzdem ist die Abfahrt pünktlich. Der Grund: Im Deutschen Reich gibt es damals keine einheitliche Ortszeit. Maßgeblich ist der örtliche Sonnenstand, der je nach Längengrad verschieden ist. Mittag ist jeweils dann, wenn die Sonne am höchsten steht. Es habe sieben Zeitzonen gegeben, sagt Historiker Rainer Mertens vom Eisenbahnmuseum in Nürnberg: "Die Eisenbahn fuhr allerdings nach Berliner Zeit. Das gab natürlich ein fürchterliches Durcheinander, weil die Eisenbahnfahrpläne bis zu 20 Minuten von der Ortszeit abwichen." Das ändert sich erst, als die Bahnunternehmen, die im Verein Deutscher Eisenbahnverwaltungen organisiert sind, sich darauf einigen, ihre Fahrpläne ab dem 1. Juni 1891 nach der Mitteleuropäischen Eisenbahn-Zeit (MEZ) abzustimmen. Zwei Jahre später wird per Gesetz festgelegt, dass diese Zeitbestimmung auch außerhalb des Bahnverkehrs gültig ist - jetzt unter der Bezeichnung, die bis heute gilt: Mitteleuropäische Zeit (MEZ).

Erstes Treffen ohne Beschlüsse Anfang der 1870er Jahre gibt es im Deutschen Reich rund 80 staatliche und private Bahnunternehmen. Sie haben nicht nur ihre eigenen Fahrpläne, sondern seit 1835 auch unkoordiniert ihre eigenen Eisenbahnstrecken gebaut. Die erste deutsche Fahrplankonferenz am 20. April 1871 soll das ändern. Die Vertreter der 80 Gesellschaften tagen in München, doch das Treffen bleibt ohne greifbare Beschlüsse.

Auf der Münchner Konferenz wird aber klar, dass eine Zusammenarbeit notwendig ist. "Schon im darauffolgenden Jahr kam dann in Köln die erste europäische Fahrplankonferenz zustande", sagt Historiker Mertens vom DB-Museum. "Die hat dann wirklich funktioniert."

140 Trassenkonstrukteure im Einsatz

Heute koordiniert die DB-Netz allein in Deutschland nach eigenen Angaben jährlich an die 66.000 Kundenanfragen der etwa 390 Eisenbahnunternehmen. An Computern erstellen 140 Trassenkonstrukteure der DB-Netz die entsprechenden Fahrpläne. Auf Monitoren zeigen Grafiken versetzte, horizontale Linien, die über- und untereinanderliegen. So wird sichtbar, ob die konstruierten Trassen auch tatsächlich fahrbar sind. Quelle wdr 20. April 2016

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In einer Niederschrift des Jahres 1873 über die Entwicklung der Eisenbahnen zu einer Deutschen Reichsbahn schrieb Otto von Bismarck, der Reichskanzler sagt: Über das Eisenbahnwesen

Eisenbahnen sind in erster Linie nicht zur Gewinnerzielung bestimmt, sondern dem Gemeinwohl verpflichtete Verkehrsanstalten. Sie haben entgegen dem freien Spiel der Kräfte dem Verkehrsinteresse des Gesamtstaates und der Gesamtbevölkerung zu dienen.

in einer weiteren Niederschrift des Jahres 1872 ging er sogar noch weiteres darf dem freien Spiel der Kräfte des Marktes nicht ungehemmt der freie Lauf gelassen werden, es gibt Bereiche im Leben, die dem Wohl der Allgemeinheit und nicht der Gewinnerzielung zu dienen haben ...

... in den 1870-er Jahren - dauerhaften Frieden hat man nur durch Interessenausgleich, aber nicht dadurch, das man seine Interessen durchsetzt ... Otto von Bismarck

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Augsburger Abendzeitung, Donnerstag, 7. Juni 1883, Nr. 154

Der erste Orient=Expreßzug

München, 7. Juni. Erwartet von einer größeren Anzahl Herren - darunter viele Beamte der Generaldirektion der kgl. Verkehrsanstalten - fuhr gestern Nachmittag programmgemäß 2 Uhr 35 Min. der erste Orient=Expreßzug in die zweite Halle des Zentralbahnhofes ein. Der Zug bestand aus 2 Schlaf-, 1 Restaurant= und 3 Gepäckwagen, welche ab Ulm von einer bayerischen Schnellzugs=Lokomotive gezogen wurden. Ab Paris hatte derselbe 34 Passagiere; es wollten aber noch einige 30 Personen - trotzdem daß schon für die nächste Haltestation das Fahrgeld für eine größere Strecke (bis Straßburg) bezahlt werden muß - an der Fahrt theilnehmen. An durchgehenden Passagieren, d.h. solchen, welche Paris bis Konstantinopel frequentiren, bringt der Zug 11 Personen (meist Engländer), von welchen jeder ein Fahrgeld von 510 Franken bezahlen muß. Mehrere Reisende fahren bis Bukarest, einige bis Wien, auch für München haben sich ab Paris zwei Reisende gefunden; dagegen stiegen hier zur Fahrt nach dem Orient zwei Herrn und eine Dame ein. Für den hiesigen Aufenthalt ist eine Dauer von 5 Minuten vorgesehen - eine Spanne Zeit, welche just etwas zu knapp scheint, um alle die nothwendigen Funktionen, abgesehen von dem Maschinenwechsel, der sehr prompt ging, mit der nöthigen Ruhe zu absolvieren. Zu den ersteren gehören das Durchprobiren der Räder, das Schmieren derselben u.s.w., lauter Manipulationen, welche gestern ja durchgenommen worden; allein man hätte wünschen können, daß den betreffenden Bediensteten nur wenige Minuten mehr Zeit gegönnt gewesen wäre. Dieser 5 Minuten lange Aufenthalt mußte also hinreichen, um sonst noch eine Menge anderer Handlungen zu vollziehen; dazu gehören vor allem die Einnahme einer Menge Speisen, des Wassers für Küche und sonstigen Bedarf in den Waggons nicht zu vergessen. Es gab sich deshalb von den vielen Bediensteten (darunter auch ein äußerst geschäftiger Mohr) des Zuges eine fieberhafte Thätigkeit kund. Dieselben mögen etwas überrascht gewesen sein, als zur festgesetzten Zeit das Zeichen zur Abfahrt gegeben wurde und Schlag 2 Uhr 40 Minuten der Zug aus dem Bahnhof dampfte, angestaunt von einer noch größeren Menschenmenge, als bei der Einfahrt. Ihr Berichterstatter glaubte den Zug doch wenigstens bis zur nächsten Halte=Station Simbach benützen zu sollen, um nach eigener Anschauung über die Fahrt berichten zu können. Die 124 Kilometer Strecke wurde in der vorschriftsgemäßigen Zeit von 2 Stunden 18 Minuten zurückgelegt, denn genau 4 Uhr 58 Minuten fuhr der Zug in Simbach ein. Wie jedem anderen der 24 Mitreisenden wurde mir kurz nach Abfahrt ein Kabinet zugewiesen. Der sehr freundliche Kondukteur zeigte mir nun alle Einrichtungen des Schlafwaggons, speziell meines Kabinets, über dessen raffinirte und höchst elegante Ausrüstung bis zur himmelblauen Decke, auf welche Schwalben gemalt sind, ich nicht wenig erstaunt war. Die größte Bewunderung rang mir doch die Umwandlung des Kabinets in ein mit zwei Betten (übereinander) sich darstellendes Schlafgemach ab. Vorzüglich ist die Ventilation. Unter der Leitung des den Zug begleitenden Herrn Inspektors Weil, eines liebenswürdigen Elsässers (ehemaligen französischen Majors), wurde nun von den übrigen Theilen des Wagen Einsicht genommen, zumal interessirt hier der sog. Restaurantwagen. Derselbe hat vor den bekannten den Vortheil, daß sich die Restauranträume - zwei Speisesalons - sowie die zwischen beiden liegende Küche in ein und demselben Wagen befinden, wodurch der Zug eine nicht so schwere Belastung erfährt, als wenn ein besonderer Küchenwagen mitginge. Die Salons derselben sind außerordentlich elegant ausgestattet. Den Boden bedecken Smyrnateppiche, die Wände sind in einem Salon mit Gobelins, im andern mit Ledertapeten in reicher Goldpressung bekleidet. Von der künstlerisch dekorirten Decke hängt ein im altdeutschen Stile gehaltener Kronleuchter mit drei Glasflammen herab. Der Wagen ist mit einer von der Kochmaschine ausgehenden Zentralheizungsanlage, Gasbeleuchtung und einem pneumatischen Klingelwerk versehen. Die großen Spiegelscheiben gewähren ungehinderte Aussicht nach allen Seiten. In jedem dieser Salons befinden sich vier an den Seitenwänden befestigte Tische und transportable Polsterstühle, welche ein Placiren der Reisenden in Gruppen von beliebiger Anzahl ermöglichen, so daß man hier Zwei Karten spielen sah, dort fünf Personen aus elegantem Geschirr Mocca schlürfen u.s.w. Ein dort aufliegender Speisezettel bezeichnet Kaffee mit Brod und Butter zu Franken 1,50, Dejeuner ohne Wein 4 Fr. und Diner ohne Wein zu 6 Fr. (Potage, Hors d`Oeuvre, Poisson, 2 plats de Viande, Lègumes, Entrements, Dessert). Die Weine etc. sind aufgeführt mit 1/2 Bouteille Bordeaux, Porto und Sherrry a 3 Fr., Moet und Verzenay a 6 Franken etc. Von einem Waggon zum andern gelangt man über auf den Buffern liegende, mit Geländern versehene und durch Jalousien gegen Sonne, Wind und Wetter geschützte Plattformen. - Um 2 Uhr 54 Minuten passirten wir den Ostbahnhof, 3 Uhr Riem, 3 Uhr 4 Minuten Feldkirchen, 3 Uhr 10 Minuten Poing, 3 Uhr 15 Min. Schwaben, 3.45 Dorfen, 4,15 Mühldorf, 4,29 Neuötting und unter strömenden Regen liefen wir 4 Uhr 58 Min. in Simbach ein. Für eine so wichtige Endstation mußte man sich wundern, daß der Bahnhofperron so viele Neugierige - auf allen, selbst auf den kleinsten Stationen hatten sich übrigens trotz des Regens Neugierige eingefunden - zählte. Kaum angekommen, stürzten sich auch schon eine große Anzahl österreichischer Finanzwächter über die Gepäckwagen her, bereit, alles zu plombiren, was z. B. an Speisen, zumal Getränken u. sonstigen Vorräthen vorhanden. Doch nur zu einem gewissen Theil konnten alle diese Manipulationen während des genau 5 Minuten langen Aufenthaltes vorgenommen werden. Einige dieser Finanzwächter blieben deßhalb im Zug um ihre Aufgabe bis zur nächsten Haltestelle zu lösen. Für, die Folge soll eine Abänderung dahin getroffen werden, daß stets der bald darauf von Wien kommende Orient=Expreßzug alle die Speisevorräthe einnimmt, welche der von Paris kommende etwa noch übrig hat. Zum Schluß möchte vielleicht noch interessiren, daß ein jeder Blitzzug nur aus 2 Schlaf= und 1 Restaurant=, sowie 2 - 3 Gepäckwagen bestehen darf, so daß er an Passagieren nur 28 Personen mitnehmen kann; nämlich in einem Schlafwagen in je 2 Kabinetten je 4 und in je 3 Kabinetten je 2 Personen, zusammen 14 Personen. Ein solcher Expreßzug darf nicht über 100 Tonnen wiegen, davon werden auf je einen Schlafwagen 15, auf einen Gepäckwagen bis 10 und 12 Tonnen gerechnet.

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Die Reise-Erlebnisse der Baronin von Rackwitz

Teil 1: Im Courierzug nach Wien – October 1893

Und wieder einmal war die Baronin in delikater Mission unterwegs. Dieses Mal ging die Reise nach Wien, wo Oberhofrat Magister Hubertus von Klima – ein entfernter Verwandter aus der Habsburger K.&.K.Monarchie – ein wichtiges und zukunftsweisendes Project in die Wege zu leiten gedachte:

Der Einsatz eines neuartigen Benzol-Triebwagens vom Versuchsamt Berlin-Grunewald im Rahmen eines Pendelverkehres zwischen Wien und dem südlich gelegenen, heimeligen Weinort Gumpoldskirchen.

Um dem Wunsche der KPEV Nachdruck und Erfolg zu verleihen, sollte die Baronin den Oberhofrat mit ganz speciellen Argumenthen überzeugen - in besagtem Gumpoldkirchen mithilfe etlicher Schoppen des edles Weines !

Und wenn der Vino nicht ausreichen würde, nun ..... mit süffisantem Lächeln strich sich die gutgewachsene Blaublütige über die gewölbte Ballustrade ihrer ausladenden Rüsschenbluse .....

Nachdem Agathe von Rackwitz den staubigen Perron betreten hatte, lupfte sie zunächst ihre langen Kleider zurecht, wobei ihr Teile ihrer mitgeführten Bagage entglitten. Die enggeschnürte Corsage verhinderte jedoch unschickliches Bücken ihrer zarten Figur, war ihr doch unglücklicherweise neben einem bastgeflochtenen Früchstückskörbchen auch eine ihrer drei Hutschachteln gen Boden entglitten.

Doch plötzlich riss der Stoff und das Malheur nahm seinen Lauf !

„Huch, wie unangenehm“, entfuhr es dem Munde der blaublütigen Edelfrau, „welch ein unschicklicher Fauxpass !“

Flugs rief sie nach einem, nur wenige Klaster von ihr entfernt stehendem Conducteur: „He er da, hat er wohl die Güte, die darniedergefallene Reisebagage aufzuclauben ?“

Dienstbeflissen bückte sich der Uniformierte, um der adretten Adeligen ein untertänigster Cavalier zu sein. So, wie es für einen preussischen Beamten der unteren Dienst-Cathegorie eine selbstverständliche Pflicht darstellet. „Habe er vielen Dank !“; dankbar warf die Baronin ihrem Helfer in der Noth zwei blankpolierte Kreuzer entgegen.

Stolz griff sich der Beamte an seine Dienstmütze und machte einen höflichen Diener.

„Es war mir eine Ehre gnä´ Frau“, erwiderte er kratzbuckelnd, „hier auf unserem Bahnhof herrschen noch Zucht und Anstand – ganz so, wie es sich für des Kaisers Beamtenschaft geziemet.“

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Und schon eilte der beschleunigte Courierzug von Cöln nach Wien Westbahnhof heran – geführt von zwei preussischen S3-Locomotiven.

Heissa ..... gar lustig war es anzuschauen, wie der heisse, aus den Zylindern austretende Dampf bei der Einfahrt des Zuges dem gnädigen Fräulein unter die Kleider fuhr. Ihr weit ausladendes Plusterkleid blähte sich noch weiter auf, wobei dicke Dampfesschwaden unter dem Saume hervorquollen.

Baronin Agathe von Rackwitz errötete geschamig über das ganze Gesicht !

Endlich konnte sie auf der bequemen Holzbank ihres 3.Classe-Coupés Platz nehmen.

Für ein Billet 2. oder gar 1. Classe reichte ihr Reisebudget leider nicht aus – in diesen schweren Zeiten musste man eben Bescheidenheit üben. Baronin von Rackwitz zog am Riemen des Fensters, um die schwere Scheibe vorsichtig herabzulassen. Aufgrund des überhitzen Coupés würde ihr ein wenig Frischluft in erquicklicher Weise dienlich sein !

„Oh schauet doch nur“, die blauen Augen der gutgewachsenen Adeligen begannen sich zu weiten, „beim Heiligen St.Ignazius - so sehet doch den blühenden Flieder entlang des in schwindelndem Tempus vorbeieilenden Bahndammes !“

Die Mitreisenden, ein älterer Confiserist, sowie eine aus England stammende Soufragette, welche sich einem kleinen Nickerchen hingegeben hatten, blickten erschrocken auf.

Lupus, einer kleiner, fetter Mops mit plattgedrückter Faltenschnauze, sprang blitzschnell vom Schoße seiner Herrin und kläffte in nerverzerreissender Art in die illustere Runde.

Was war los ? Krieg ? Französische Husaren ? Eine dieser neuartigen benzinbetriebenen Droschken mitten auf einem Feldweg explodiert ?

„Mein liebes Kind“, begann der gegenüber sitzende Gevatter zu sprechen, nachdem er umständlich in ein mit roten Caros besticktes Taschentuch hineingeschneuzt hatte, „nicht die Landschaft eilt an uns vorbei – nein; WIR im Zuge eilen fürbass durch die blühenden Auen in Gottes gesegneter Natur !“

Und er fuhr fort:

„Die preussische Staatsbahn schafft es, sogar mit über 90 Meilen in der Stunde über den Strang aus geschmiedetem Kruppstahl hinwegzueilen – ein Zeugnis kühnster Ingenieurskunst der allerbesten Güte in diesen modernen Zeiten ! Lang lebe der Kaiser !“

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Während des Lokwechsels in Frankfurt am Main näherte sich eine Gruppe frisch ausgebildeter Grenadiere und Infanteristen dem zur Abfahrt bereitstehenden Zug. Geführt wurde die Gruppe von Oberfeldwebel Rabbatz, einem alten Haudegen aus dem preussisch-französischen Krieg von 1870/71, in welchem sie ihm den rechten Arm weggeschossen hatten.

Die kampferprobte Gesellschaft hatte zur Feier des Tages reichlich dem Absinth zugesprochen.

„Es lebe unser Krupp-Geschütz - wir hau´n dem Feind was auf die Mütz“ - gröhlend und lallend schwankten die Soldaten gemeinsam mit ihrem Vorgesetzten über den gepflasterten Perron unterhalb der gewölbten Bahnhofshalle.

Als der Oberfeldwebel jedoch das anmutige Gesicht der Baronin erblickten, welches mit wehendem Blondhaar aus dem geöffneten Abteilfenster schaute, wurde er schlagartig nüchtern.

„Kompanie linksum und - STILLGESTANDEN !“, kommandierte er, wobei sein links von ihm getragener Säbel gegen das metallbewehrte Koppel schepperte.

Unweit von ihm rülpste ein Infanterist unschön auf.

„Gestatten – Oberfeldwebel Rabbatz mit Gefolgschaft auf dem Wege zur Fürst-Pückler-Kaserne in Oberpfaffenhofen !“; der Einarmige nahm protokollarisch stramme Haltung an und leckte sich dabei dezent mit der Zunge über den mittleren Part seiner Unterlippe. Ungezügelte Wollust ummantelte das schnapszerfressene Gehirn des Armamputierten.

Gleichzeitig begann Grenadier Meier weiter hinten, seinen Mageninhalt in den Schotter von Gleis 7 zu entleeren .....

Agathe von Rackwitz zog angewidert den Kopf ein und liess sich zurück auf die Holzbank innerhalb ihres Coupés fallen.

Igitt – dieser ordinäre Soldatenpöbel proletarischer Coleur ! So etwas war das junge Mädchen blauen Blutes ja nun mal gar nicht gewöhnt. Und wie diese Horde nur nach Schnaps stank. Ekelhaft !

Die süssen Äpfelchen oberhalb ihrer Corsagenschnürung bebten – ihre Hände zitterten.

Um ihre innere Ruhe wiederzufinden, zog sie ein schon abgegriffenes Buch aus ihrer Reisetasche um ein wenig darin zu lesen. Das Neue Testament.

Denn wie es sich für anständige Weibsbilder gehört, führte auch die junge Agathe stets eine Bibel mit sich.

Jawohl – in diesen schweren Kriegszeiten war die Sünde überall; Luzifer war stets präsent, um die Seelen anständiger und gottesfürchtiger Jungfrauen ins Verderben zu führen .....

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Unter gewaltigem Fauchen der den Zug führenden Dampflokomotive ging es nun endlich weiter in Richtung Grenze.

In Coupé Nr.4 hatte sich mittlerweile allgemeine Müdigkeit breitgemacht. Auch Lupus, der hässliche Mops, schwelgte nunmehr im siebten Hunde-Traumhimmel. Nur der Baronin von Rackwitz gelang es einfach nicht, dem seeligen Schlafe zu verfallen.

Zu sehr schnürte die stramm angelegte Corsage ihren weiblichen Korpus ein – und das bei 35 Grad Hitze !

Die junge Adelige fiel in einen unruhigen Dämmerzustand. Visionen von futuristischen Szenarien bemächtigten sich ihres Geistes. Sie fühlte sich plötzlich in das Jahr 2010 transformiert ..... luftig und locker bekleidet in Jeans und einem alten Schlabber-T-Shirt. Dazu barfuss und mit einem gekühlten Longdrink in der rechten Hand.

Aaaach - endlich frei atmen können, nichts klemmte, nichts beengte ..... frei und ungezwungen hob und senkten sich ihre vollen Brüste unter dem schneeweissen Hemdchen - eine Wohltat ohnegleichen !

Und dazu ein 1.Klasse Abteil in einem klimatisierten Intercity-Express.

Willige HiWis, die ihre Füsse mit kaltem Wasser wuschen, dieselben anschliessend massierten und mit kostbaren Duftölen arabischer Gewächse einsalbten .....

Zur Linken ein süsser, kleiner Negerboy, der ihr sporadisch ein gekühltes Kügelchen Raffaelo in den geöffneten Mund einführte – dazu hochmotivierte Zugbegleiter, welche sie mit den neuesten Klatsch- und Tratsch-Illustrierten versorgten.

Neues von den “Royals“ interessierte sie besonders .....

Aus dem topmoderne mp3-Player der bekannte Song von Falco "Vienna´s calling". Das Leben konnte so schön sein !

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Die Nacht war kühl und nebelig.

Hin und wieder zogen Rauchschwaden an den Fenstern der drei- und vierachsigen Waggons vorbei. Das rhytmische Klack-Klack, welches beim Überfahren der Schienenstösse entstand, erzeugte jene monotone Melodie, welche auch den schlechtesten Schläfer unweigerlich in das Land der Träume beförderte.

Daran konnte sogar der erbärmliche Gestank des warmgewordenen Limburger Käses nichts ausrichten, welchen der greise Confiserist mit vorzüglichem Wohlbehagen Häppchen für Häppchen in aller Seelenruhe zu sich nahm.

Vor jedem Bissen hielt er sich den elenden Stinker unter die Nase und meinte mit einem geradezu sadistischen Grinsen:

„Aaahh ..... was für ein köstliches Aroma. Das ist der Duft der grossen weiten Welt !“

Dass der alte Mann dazu noch seine Stiefel nebst Wollstrümpfen ausgezogen hatte und seine feucht gewordenen Schweissfüsse zum Trocknen auf einen der freien Sitzplätze gelegt hatte, machte das Ganze für die im Coupé dahin darbenden Mitreisenden auch nicht wirklich angenehmer .....

Die Baronin würgte. Nur ein Tüchlein, heftigst beträufelt mit Eau de Toilette, konnte die Gepeinigte vor dem Schlimmsten bewahren.

Dagegen wurde der penetrante Geruch der im Wageninneren befindlichen Petroleumlampen von den Passagieren überhaupt nicht wahrgenommen – zu sehr hatte man sich im Laufe der Stunden daran gewöhnt. Gegen Mitternacht wurde das reisende Essemble dann schlussendlich von der muffigen Pein befreit.

Lupus, der speckfaltige Fettmops, schnappte sich in einem unbeobachteten Moment den Restbatzen des Limburger Stinkers, wobei er freudigst mit seinem Stummelschwanz hin und her wedelte .....

Auch Agathe von Rackwitz schlief nun tief und fest, während der Courierzug einsam die ansonsten stille Nacht durcheilte.

Nur die britische Soufragette arbeitete im Schein der schummrig leuchtenden Petroleumlampe unbeirrt an ihrem Vortrag “Freies Wahlrecht für die moderne Hausfrau des 19.Jahrhunderts“, welchen sie in zwei Tagen auf dem Vorplatz des Franz-Josef-Bahnhofes zu Wien vorzutragen gedachte.

Bald war Passau, die deutsch-österreichische Grenze, erreicht.

Zahlreiche Zöllner standen ungeduldig bereit, um den Pulk ankommender Passagiere aufs Peinlichste zu überprüfen. Und wehe, es wagte jemand, die kaiserliche Obrigkeit bezüglich der Zollabgaben hintergehen zu wollen.

Man munkelte, die Katakomben von Paris seien geradezu Luxuspaläste im Vergleich zu den Zuchthäusern dies- und jenseits der bajuwarischen Grenze .....

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Teil 2: In der Weinlocalität zu Gumpoldskirchen - October 1893

Es war kein einfaches Unterfangen.

Oberhofrath Magister Hubertus von Klima griff erneut nach seinem Becher Wein (es war bereits sein fünftes Viertele) und prostete der Baronin zu. Zierfandler, Rotgipfler, der Frührote und der Grüne Veltliner - alle gängigen Weisorten der hiesigen Gegend hatte der alte Schluckspecht bereits durchprobiert.

Hier im mit hübsch gestalteten Weinranken ausgeschmückten Gartenbereich der Bahnhofrestauration zu Gumpoldskirchen bei Wien gaben sich junge Adelige, höhere Töchter und junge Offiziere gerne dem Weine hin; auch sah man hin und wieder einen sogenannten k.u.k-Fuzzer auf einem der naheliegenden Perrons, der - mit schwerer Plattencamera bewaffnet - auf der Jagd nach den schweren Schnellzuglocomotiven der Südbahn war .....

Gar lieblich schwirrten bunte Schmetterlinge über den Köpfen der Gäste, um sich am köstlichen Nektar der unzähligen Blüten ringsherum zu berauschen. Grillen zirpten vergnügt im hohen Grase der angrenzenden Wiese und fröhliches Lachen erscholl über das Terrain gemütlicher Geselligkeit.

Anastasia, die 19-jährige Wirtstochter, wieselte eifrig zwischen den vollbesetzten Tischen umher, um die durstigen Kehlen im Blockabstand mit frischem Rebensaft zu versorgen. In ihrem bunten, oben herum gut gefüllten Trachtenkleid sah die junge Maid ganz herzallerliebst aus – auch standen die langen, sorgsamst gepflochtenen Zöpfe dem jungen Ding gut zu Gesicht. Wie kokett sie doch dabei mit ihrem strammen Popöchen wackelte und die schneidigen Offiziersanwärter der 7. Infanterie-Division aus Neusiedl am See dabei anblinzelte .....

Ein alter Bazi in abgetragener Krachledernen und mit Gamsbart geschmücktem Hütchen rief anerkennend:

„Jo mei – woas hoat des fesche Madl fei oa feins Holz vor der Hüttn, so hoats mei Resi vor 60 Joarn auch aus´g´sehn !“

Während in der Ferne das Fauchen und Stampfen unterschiedlicher Locomotiven der Südbahn zu vernehmen waren, begann auch der Kopf der Adeligen zu “rauchen“. Die Vetragsunterzeichnung zwischen der Königlich Preussischen Eisenbahn Verwaltung (KPEV) und den Bahnen der Kaiserlich und Königlichen Monarchie Österreich-Ungarns (k.u.k.Monarchie).

Es ging um viel Geld, um Macht, um Einfluss.

Baronin Agathe von Rackwitz musste unter allen Umständen die Unterschrift des Magisters unter die Verträge bekommen.

„Gnä´ Frau“, mit flatternden Schweinsäuglein blickte er die ihm gegenübersitzende Baronin an, „was sollen diese gar lästigen Vertragsmodalitäten .....“

Die Blaublütige horchte auf. Worauf wollte ihr Gegenüber denn nun hinaus ?

„Hat nicht Amor darselbst diesen heutigen Tag zur sinnlicher Begegnung der lodernden Herzen deklarieret !?“

Ach du Heilige Dreifaltigkeit, was laberte der rollige Grufti denn dann für einen geschwollenen Bullstuhl ? Scheinbar hatte er schon zu viel des edlen Vinos intus – das konnte ja noch heiter werden !

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Vor der k.u.k.-Restauration hatten sich derweil Fridolin D. und Aloisius D. auf dem Trottoir postiert. Beide hatte ihre tonnenschweren Plattencameras in Stellung gebracht, denn in wenigen Minuten sollte eine der letzten, noch planmässig verkehrenden Postkutschen hier ankommen.

Mit Lok – äh; mit Pferdewechsel.

Fridolin und Aloisius waren sogenannte Postkutschen-Fuzzis, immer auf der Fotojagd nach den letzten noch verkehrenden Plandiensten.

„Ach vergelts Gott“, meine Aloisius verbittert, „vor 10 Jahren noch ..... pferdebespannte Schnellkurse auf allen Strecken ... aber heute !?“

„Genau, früher war sowieso alles viel besser“, pflichtete ihm Fridolin, ein hagerer Mittzwanziger bei, der gerade in einem kleinen Heftchen stöberte:

“Pferdegeführte Reisedroschken der kaiserlich-königlichen Postanstalten – Sommerfahrplan 1893“.

„Alles verdampfelt mittlerweile. Ich hasse diese Nachfolgeschaft in Form feuerspeiender Dampfrösser“, fügte er noch hinzu, „dieses verfluchte moderne Gezumpel ! Hier in Gumpoldskirchen ist noch eines der letzten Pferdebetriebswerke innerhalb der Monarchie !“

Sprachs und trat mitten in einen Pferdeapfel, welcher sich vermutlich in Form von tangentialen Fliehkräften beim scharfen Anfahren in einer Kurve auf das gepflasterte Trottoir verirrt hatte.

„Hmm ... smell“, jauchzte er entzückt auf, „dieser herrliche Geruch der vierbeinigen Zugmaschinen wird auch immer selterner .....“

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„Verehrteste, lassen sie uns miteinander Brüderschaft trinken“, ungestüm schepperte der Magister sein halbvolles Weinglas gegen jenes der Baronin und gab dezent ein leises Bäuerchen von sich.

„Ich heisse übrigens Hubertus“, fuhr der Fettwanst fort, „meine Freunde hier nennen mich auch Hupsi - hi hi hi ...“

Die Baronin schluckte. Vielleicht ergab sich ja jetzt die Möglichkeit zur Unterzeichnung der Verträge. In Vino veritas – im Blute viel Promille, hinweg der eigne Wille .....

Schwuppdiwupp zog Baronin Agathe von Rackwitz die Verträge aus ihrer Krokodilleder-Handtasche und als der Magister zum Kusse der weinseeligen Brüderschaft aufbegehrte, meinte die Baronin mit verführerischer Stimme:

„Auf ein langes Leben, ihro Gnaden – prostata !“

Der Fettleibige grinste. Mit schweren Bewegungen lallte er: „Los, gib dem lieben Hupsi jetzt ein kleines Bussi !“

Schon drückte Agathe dem Magister einen goldenen Füllfederhalter in die Hand und gab gleichzeitig den Blick auf eines der Strumpfbänder ihrer Strapse frei.

„Hier unten rechts, liebster Hupsi - und da noch - und hier unten auch - ach Hupsi, du bist ja so ein charismatischer Goliath -“, dann hauchte sie ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange.

Jesses Maria – wie unschicklich dieser Typ nur transpirierte, ekelhaft.

Aber die Verträge waren unterzeichnet !

Fünf Minuten später erhob sich die Gräfin und meinte:

„Oh Liebster, ich entfleuche mal eben(t) nach nebenan – meine Nase pudern !

Ausserdem verspüre ich, wie bösartige Migräneanfälle sich meiner zu bemächtigen gedenken - ich muss sofort zurück in mein Hotel; nur tiefe Stille bei gedämpftem Lichte kann mir jetzt diese berganfahrenden Güterzuglocomotiven mit hämmernden Auspuffschlägen aus meinem Kopfe hinaustreiben !“

Und damit war das Rennen für Magister Hubertus von Klima gelaufen.

Sollte sich diese volltrunkene Schwabbelqualle doch sonstwo ´ne Wärmflasche fürs Nachtlager besorgen .....

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Die Fahrt im abendlichen Localzug zurück nach Wien verlief dann ohne grössere Zwischenfälle. Der Conducteuer, ein ältere Eisenbahner mit einem peinlichst adrett gewichstem Schnurrbart, hatte bereits die Kanonenöfen in den einzelnen Plattformwagen angeheizt und wohlige Wärme breitete sich in den ansonsten äusserst karg eingerichteten Carossen aus.

Zwei etwa 10-jährige Buben in modischer Matrosentracht spielten derweil auf dem Fussboden mit einer Miniatureisenbahn.

Eine lustig anzuschauende Locomotive mit der Achsfolge A 1´ - ein sogenanntes Storchenbein – welches erst zwei Jahre zuvor zu Weihnachten 1891 erstmals in wenigen Wiener Specialgeschäften käuflich zu erwerben war. Der Hersteller, eine noch recht unbekannte Manufactur namens Märklin oder so ähnlich, hatte das schöne Stück ganz aus Blech gefertigt. Sogar richtige Schienen gab es hierzu !

Die Baronin kam schnell mit den beiden Jungs - Ambrosius und Casimir genannt - ins Gespräch und wurde sogleich in Form einer “Aufsichtsbeamtin“ in das Spiel mit integriert.

Wie emanzipiert diese Jungs doch dachten .....

Während der Fahrt verspeiste man Guglhupf und Palatschinken, welches die Mutter der zwei Racker aufgetischt hatte.

„Greifen sie nur zu, gnä´ Frau“, meine die etwa 35-jährige Wienerin, eine äusserst hübsche Person trotz ihrer beachtlichen Leibesfülle, „was meinen Jungs schmecket, wird auch ihren Gaumen erlaben.“

Das liess sich Agathe, die K.P.E.V.-Agentin in geheimer Mission, nicht zweimal sagen – hatte sie doch ausser ein paar Schoppen Wein noch keinerlei feste Nahrung zu sich genommen.

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Gegen 11:30 (Nachmittagszeit) erreichte Baronin Agathe von Rackwitz ihr Hotel “Sissi Royal“ in der Maximilianstrasse.

Unten in der Hotelbar liess die Agentin dann erstmal die Korken knallen. Von wegen Migräne .....

„Schampus für alle !“, rief sie in entfesselter Wallung und dann ging hier so richtig die Post ab.

Die Baronin war überglücklich. Die unterzeichneten Verträgen waren unter Dach und Fach. Und ihr darselbst winkte zum Lohn eine Jahresnetzkarte 1.Cl. für das gesamte Eisenbahnnetz der KPEV plus k.u.k.Monarchie.

Zur Feier des Tages gab sich die Blaublütige jetzt gemeinsam mit der ganzen anwesenden Nobel-Poke einem nächtlichen Gelage der heftigsten Coleur hin, wobei man gegrillten Kapaun und gesottene Hühnerbrüstchen reichte, ganiert mit Trüffeln und Gemüse der Saison.

„Bravo, bravissimo“, jubelte auch Rittmeister Höly, ein ungarischer Aristokrat verärmten Adels, „lang lebe die Baronin von Rackwitz !“

Ungeniert verköstigte man sämtliche Sorten des sündhaft teuren Edelgesöffs aus der französischen Champgne. Dazu fidelten einige Zigeuner mit stimmungsvollen Rhytmen zum Tanze auf.

Agathe von Rackwitz strahlte über beide Backen. Hier kam sich die vornehme Gesellschaft schnell näher - auch griffen hin und wieder unzüchtig prüfende Hände an gewisse Stellen ihres corsagettierten Leibes, welches die Lady mit einem lustvollen Quieken quittierte.

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Gegen 5:30 am Morgen und nach etlichen Gläsern Champagner (Pommeroy de Luxe, Rousselange bon etat, Napoleon XIV. brut und anderen Köstlichkeiten) fiel die Gnädigste dann endlich in ihr mit 1500 Gramm ungarischer Entendaunen gefülltes Federbett.

Aber erst, nachdem sie sich aus ihrem Gefängnis aus lustvoller Schnürung befreiet hatte und zum ersten Mal seit 20 Stunden wieder frei durchatmen konnte .....

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Augsburger Abendzeitung, Mittwoch, 28. August 1912, Nr. 239 //

München, 27. August - Die bayerische und preußische Eisenbahnverwaltung haben beschlossen, die im Sommerfahrplan 1912 erstmals eingeführte schnellste Verbindung zwischen Berlin und München und umgekehrt, die Schnellzüge D 79 und D 80, auch während des Winterfahrplans 1912/13 versuchsweise zu führen. Die Züge, welche nur in Nürnberg und Halle halten, zeigten bisher eine gute Besetzung. Die Abfahrtzeit des D=Zuges 79 in München wird vom 1. Oktober an von 8 Uhr 10 Min. auf 8 Uhr 15 Min. vorm. Hinausgerückt; die Ankunft in Berlin bleibt unverändert (4 Uhr 56 Min. nachmittag). D=Zug 80 verläßt wie bisher Berlin um 1 Uhr 10 Min. nachm. Und trifft um 10 Uhr 8 Min. nachts in München ein. Auch im Winterfahrplan werden die beiden Züge abwechselnd von bayerischen und preußischen Lokomotiven auf der über 300 Kilometer langen Strecke Nürnberg = Halle befördert.

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Münchner Neueste Nachrichten, Sonntag, 16. Januar 1916, Nr. 26, Vorabend=Blatt, München, 15. Januar

Abfahrt des ersten Balkanzuges

* Mitten in der Kriegszeit ist der erste Balkanzug um 9 Uhr 40 Min. als Pionier neuer wirtschaftlich politischer Verhältnisse von München nach Konstantinopel abgefahren. Eine nach mehreren Hunderten zählenden Menschenmenge begleitete die Abfahrt des Zuges mit freudigen Hochrufen. Unter den offiziellen Persönlichkeiten, welche diesem geschichtlichen Ereignisse beiwohnten, bemerkte man den Präsidenten der Eisenbahndirektion München v. Weigert mit Oberregierungsrat Grimm und zahlreichen Beamten der Eisenbahndirektion, den Bahnhofkommandanten Hauptmann Schmelz und den Bahnhofvorstand, ferner Regierungsrat Münz. Dem Publikum war gegen Vorweis von Bahnsteigkarte der Zutritt zu dem Bahnsteig bis zur Höhe des sogenannten Kontrollwagens (vorletzter Wagen) gestattet. Darüber hinaus war das Betreten des Bahnsteiges, auch den Mitreisenden, verboten; eine militärische Bahnwache bildete längs des Zuges Spalier.

Der neue Anschlußwagen aus dem Westen, von Straßburg = Karlsruhe = Stuttgart kommend, war gegen 1/2 9 Uhr als Sonderzug in München eingetroffen. Der Balkanzug wurde von einer Lokomotive der bayerischen Staatsbahnen S 3/6 die aus der Maschinenfabrik Maffei & Co. hervorgegangen ist, gezogen; hinter der Lokomotive befand sich ein vierachsiger bayerischer Gepäckwagen, der in großen gelben Buchstaben auf grünem Grunde den Namen "Balkanzug" trug, daran schloß sich der Schlafwagen, der ebenfalls an der Seite den Namen "Balkanzug" und außerdem die Kursrichtung "Straßburg = München = Konstantinopel über Wien = Budapest = Sofia" trug; er ist mit elektrischer Beleuchtung und allen Bequemlichkeiten ausgestattet. Es folgten ein bayerischer Wagen ABBü mit 1. und 2. Klasse ebenfalls mit "Balkanzug" gezeichnet und außerdem die Kursrichtung "Straßburg = München = Belgrad" tragend, dann eine Speisewagen, der nach der Aufschrift nur zwischen München und Wien verkehrt und wieder mit dem Gegenzug nach München zurückgeht. In Wien wird bekanntlich der Münchner Teil des Balkanzuges mit dem über Berlin = Dresden kommenden Teil vereinigt. Der 5. Wagen des Balkanzuges, ein bayerischer 1. und 2. Klasse=Wagen, war der sogenannte Kontrollwagen und der 6. Wagen des Zuges, ebenfalls ein bayerischer Wagen mit 1. und 2. Klasse=Abteilen, dient nur dem internen Verkehr nach der Aufschrift zwischen Straßburg = München und Salzburg; letzterer Wagen war daher nicht mit den vorderen Wagen durch einen Verbindungsgang verbunden. In den zwei vorderen Abteilen des Kontrollwagens erfolgt nach der Abfahrt die Kontrolle der Reisenden und ihres Gepäcks durch Personen der Militär= und Zivilverwaltung; erst nach vollzogener Kontrolle dürfen die Reisenden ihre Plätze in den vorderen Zugteilen, im Speise= und Schlafwagen, einnehmen.

Mit dem ersten Balkanzug von München fuhren insgesamt 30 Reisende. Von diesen waren sechs Herren mit Schlafwagenkarten bis Konstantinopel versehen. 11 Personen, darunter drei Damen, mit Karten 1. und 2. Klasse bis Wien und darüber hinaus. Unter den Schlafwagengästen befand sich ein Offizier, Oberst v. Lossow, drei Vertreter der Presse Südwestdeutschlands (je ein Vertreter des bayerischen, württembergischen und badischen Landesverbandes der Presse) und zwei Regierungsbeamte aus Köln und Frankfurt; außerdem fuhren Großindustrielle und Kaufleute mit, dann der österreichisch=ungarische Vizekonsul v. Zeckendorf mit 2 Sekretären bis Belgrad, Schriftsteller Ganghofer bis Nisch. Die übrigen Reisenden fahren teils nur bis Wien, teils bis Budapest.

Zur fahrplanmäßigen Zeit verließ der erste Balkanzug den Hauptbahnhof; am Montag abend 7 Uhr erreicht er sein Ziel, die Hauptstadt der Türkei, Konstantinopel. Die gleiche Zugsgarnitur verläßt am folgenden Tag, Dienstag 1 Uhr mittag, wieder Konstantinopel und trifft am Donnerstag abends 9.15 Uhr in München ein. Der heute mittag 1.14 Uhr von Konstantinopel abgelassene Balkanzug erreicht München am kommenden Montag um 9.15 Uhr abends. (m.)

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Die Reise Lenins im April 1917 von Zürich nach St.Petersburg

in einem plombierten Wagen fand während des Ersten Weltkrieges im April 1917, vom 09. bis 16. April 1917 statt. Sie führte Wladimir Iljitsch Lenin zusammen mit weiteren Emigranten vom Schweizer Exil durch das Deutsche Reich über Skandinavien nach Petrograd, dem heutigen Sankt Petersburg. Der "plombierte Wagen" wurde dabei nur auf dem deutschen Streckenabschnitt benutzt. Unterstützt wurde diese Reise durch führende Kreise des Deutschen Kaiserreiches, die eine Beendigung der Kampfhandlungen im Osten Europas erreichen wollten. Nach 1945 wurde ein bauartähnlicher Wagen als Denkmal in Sassnitz auf Rügen aufgestellt.

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Der Waffenstillstand von Compiègne beendet den ersten Weltkrieg.

Am 11. November 1918 wurde in einem Eisenbahnwagen im Wald bei Compiègne im nordfranzösischen Département Oise ein Waffenstillstand zwischen Deutschland auf der einen Seite und Frankreich, England und den USA auf der anderen Seite geschlossen. Damit war der erste Weltkrieg faktisch beendet.

Auch wenn der Friedensvertrag von Versailles sehr viel bekannter ist, lohnt sich der Blick auf die geschichtsträchtigen Ereignisse im Wald von Compiègne.

Zuerst eine kurze Begriffserklärung: Ein Waffenstillstand beendet die unmittelbaren Kampfhandlungen der Kriegsparteien. Ein Friedensvertrag, später abgeschlossen, beendet den formalen Kriegszustand. Will man diese zwei Vertragsformen gewichten, sei angemerkt, dass nach dem Zweiten Weltkrieg, 1945, zum Beispiel überhaupt nie ein formaler Friedensvertrag zwischen den alliierten Kriegsparteien, Russland und Deutschland geschlossen wurde. Anders gesagt, viel entscheidender für die Soldaten und die Bevölkerung ist eigentlich der Waffenstillstandsvertrag.

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Am 28.Juni 1919 wurde der Friedensvertrag von Versailles zwischen den Siegermächten des ersten Weltkrieges und dem Deutschen Reich unter Protest des Deutschen Reiches verkündet. Gemäss den vertraglichen Vereinbarungen musste das Deutsche Reich auch erhebliche Teile einbahntechnischer Ausrüstungen und Fahrzeugen an die Siegermächte abtreten.

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02 - die Vorgeschichte 1920 bis 1933

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letzte Änderung: 28.01.2024