100 Jahre Berliner S-Bahn in der Presse

- einige Textauszüge, ohne die zu den Texten gehörenden Bilder -

 

 

100 Jahre Berliner S-Bahn: Wie sähe das Leben aus, wenn es sie nicht gäbe?

Sie hat eine rasante Berg- und Talfahrt erlebt, ihre Geschichte ist so spannend wie die von Berlin. Die S-Bahn wird geliebt und gehasst. Doch sie ist unverzichtbar.

Peter Neumann, 08.08.2024 06:05 Uhr

Sie hat es schwer, die Jubilarin. Wie kann man jemanden feiern, der zum alltäglichen Einerlei gehört? Jemanden, der einen zur Arbeit bringt und wieder zurück? Ein Geburtstagskind, das eigentlich immer da ist, aber manchmal leider auch nicht, weil es wieder mal eine Störung gibt oder an der Strecke gebaut wird. Das einen manchmal mit merkwürdigen, auch nervigen Mitmenschen konfrontiert. Hundert Jahre Berliner S-Bahn: Das ist ein schönes, aber auch schwieriges Jubiläum. Zumal in dieser Stadt.

Die S-Bahn wird hundert: Was gibt es da zu feiern? Das fragen sich Fahrgäste, die auf sie angewiesen sind. Wer zu spät zur Arbeit kommt, weil ein Zug ausgefallen ist, will nicht feiern. Trotz großer Anstrengungen liegt die Pünktlichkeit unter dem Sollwert. Die Zahl der Störungen an Fahrzeugen und Infrastruktur ist ebenfalls hoch. Baustellen und eingleisige Abschnitte bremsen die S-Bahn aus. Und wenn es mal gut läuft, läuft jemand über ein Gleis oder es gibt einen Brandanschlag – schon ist der nächste Ernstfall da.

Berlin hat ein Problem mit vielen Bewohnern dieser Stadt

Für die Jubilarin haben Bund, Land und Deutsche Bahn mehrere Milliarden Euro ausgegeben. Trotzdem wirkt sie bei ihrem ersten dreistelligen Jubiläum zuweilen müde und erschöpft, manchmal auch schmutzig – was vor allem mit Berlin und den Berlinern zu tun hat. Jedenfalls sind es nicht die S-Bahner, die Züge, Stationen und Böschungen zumüllen. Die mit Gewalt die Tür aufhalten und damit eine Zugstörung riskieren. S-Bahner laufen auch nicht quer über befahrene Gleise, um ins Gebüsch zu pinkeln.

Wer auch nur einmal in einer Wochenendnacht S-Bahn gefahren ist, der weiß, dass diese Stadt ein Problem mit vielen ihrer Bewohner und Besucher hat. Bierflaschen, Döner-Papier, Zigarettenkippen und eine Lache Energydrink: Es dürfte wenige Städte auf der Welt geben, deren Benutzeroberfläche so viel Gleichgültigkeit und manchmal auch Hass entgegengebracht wird wie Berlin. Pech für die S-Bahn.

Es gibt die Unfähigkeit zu trauern. Aber es gibt auch die Unfähigkeit zu feiern. Bislang ist in Berlin wenig geschehen, was auf das Jubiläum 100 Jahre S-Bahn hinweist. Der S-Bahn Berlin GmbH ist nicht nach einer großen Feier zumute. Obwohl das Tochterunternehmen der Deutschen Bahn gute Chancen hat, das laufende Vergabeverfahren für zwei Drittel des Netzes zu gewinnen und erneut den Auftrag zu bekommen, hält man dessen Ausgang offiziell für ungewiss. Glücklicherweise gibt es den Verein Historische S-Bahn, dessen Sonderfahrten mit ehrenamtlich aufgearbeiteten Wagen sofort ausverkauft waren. Und den Senat, der es mit einem Zuschuss von rund zwei Millionen ermöglichte, dass Siemens die Wagen mit dem neuen Sicherungssystem ZBS versehen konnte.

Die S-Bahn wird als Teil des Alltags hingenommen. Manch einer hasst, manch einer schätzt sie. Doch eines ist sie nicht: verzichtbar. Wer sich schon mal in einer Stadt ohne vergleichbares Verkehrssystem in vollen Bussen oder U-Bahnen gedrängt hat, der weiß, was er daheim an ihr hat. Nicht auszudenken, wenn sich die Köpenicker, Grünauer oder Marzahner mit der Tram, die Menschen aus Buch, Kaulsdorf und Frohnau mit dem Bus in Richtung Innenstadt vorarbeiten müssten. Oder wenn in West-Berlin Wannseebahn und Ring wie zu Mauerzeiten brachliegen würden. So viel vertane Zeit, so viel Stress.

Am 8. August 1924 fuhr erstmals ein Gleichstrom-Zug mit Fahrgästen durch Berlin. Um das neue Verkehrsmittel aus der Taufe zu heben, hatten Politiker und Planer kluge und weitreichende Entscheidungen getroffen. In „wirtschaftlich und schwerster Notzeit“, wie es damals hieß. Vor hundert Jahren begann eine rasante Berg- und Talfahrt, eine Geschichte, die so spannend ist wie die von Berlin.

Im Westen Berlins war die S-Bahn lange Zeit eine Art Museumsbahn

Obwohl die Zeiten weiterhin nicht einfach waren, wurden in die rasante „Elektrisierung“ 160 Millionen Reichsmark investiert. Das mit Strom betriebene Netz dehnte sich allein bis 1929 auf 230 Kilometer aus. Nach dem Zweiten Weltkrieg war die S-Bahn bald wieder da und eine der letzten Klammern, die diese Stadt zusammenhielt. Erst mit dem Mauerbau 1961 wurde auch sie geteilt. Im Westen begann der Abstieg zu einer Art Museumsbahn, ignoriert und offiziell verhasst, weil ein DDR-Unternehmen sie betrieb.

Nach der Öffnung der DDR-Grenze 1989 ging es wieder nach oben. Stillgelegte Trassen wurden wieder eröffnet (bis heute nicht alle), Züge gekauft – bis die Folgen von Einsparungen und Fahrzeugmängel 2009 die S-Bahn-Krise heraufbeschworen. Doch auch aus diesem Tal haben sich die S-Bahner nach oben gearbeitet. 2025 steht eine große Entscheidung an: Wer wird mindestens 1400 neue Wagen bauen und sie betreiben?

Alte Themen werden bleiben, neue Herausforderungen hinzukommen. Doch etwas wird bleiben im Zeichen des selbstbewusst geschwungenen weißen S auf grünem Grund. Wenn Berliner nach einer Reise zurückkommen und die rot-gelben Züge sehen, dann wissen sie: Sie sind wieder zu Haus ...

Berliner Zeitung 08.08.2024  

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100 Jahre S-Bahn Berlin: Erinnerungen an erste Küsse und beeindruckende Stadttouren

Stets bemüht, trotz zahlreicher Ruckler: Die S-Bahn hat unsere Autorinnen und Autoren bei vielen Ereignissen ihres Lebens begleitet. Eine Auswahl.

Peter Neumann, 08.08.2024 09:16 Uhr

8. August 1924: Premiere für ein neues Verkehrsmittel. Die erste Strecke führt 22 Kilometer weit durch den Nordosten Berlins nach Bernau. Sie beginnt abseits der Invalidenstraße im Stettiner Vorortbahnhof, der immer noch steht. Heute ist die alte Wartehalle eine Eventlocation. Mit Höchsttempo 72 sind die elektrisch betriebenen Wagen, damals grün lackiert und mit zwei Wagenklassen, zwölf Minuten schneller am Ziel als die Dampfzüge. Ein echter Fortschritt – und eine lange Geschichte begann.

8. August 2024: Mit Sonderfahrten, die in Windeseile ausverkauft waren, wird das Jubiläum 100 Jahre Berliner S-Bahn gefeiert. Das Technikmuseum hat eine Sonderausstellung organisiert, und es gibt weitere Events zum ersten dreistelligen Geburtstag. Es ist Zeit, zu gratulieren und sich zu erinnern. Drei Autoren haben es getan.

Ein Hoch auf das Denkmal der Stadtgeschichte!

Moment mal! Wieso feiert die S-Bahn ihr hundertjähriges Jubiläum, obwohl sie genau genommen viel älter ist? Seit 1882 rollen Züge über genau die Gleise zwischen Ostbahnhof und Charlottenburg, auf der heute auch S-Bahnen unterwegs sind – 11,2 Kilometer durch die historische Mitte und die aufstrebende City West. Die Berliner Stadtbahn, allein für den Passagierverkehr vorgesehen, schlängelt sich in eleganten Kurven auf ihrer Trasse dahin; zwischen Alexanderplatz und Hackeschem Markt vollführt sie eine markante 45-Grad-Kurve. Auf diesem Abschnitt verbinden sich Jahrhunderte geruhsamer Berliner Geschichte mit dem rasanten Aufstieg zur ruhelosen Tempo-Tempo-Stadt der Gründerzeit bis in die 1920er-Jahre.

Am 8. August 1924 ging die mit Gleichstrom betriebene Strecke vom damaligen Stettiner Vorortbahnhof nach Bernau in Betrieb. Die Vorortgleise auf der Stadtbahn wurden erst später elektrifiziert. Dort fährt die Stadtbahn seit dem 11. Juni 1928 elektrisch.

Ein historischer S-Bahn-Zug: Die Baureihe BR169, geliefert 1925, wurde unter anderem auf der ersten Strecke zwischen dem Stettiner Vorortbahnhof in Berlin-Mitte und Bernau eingesetzt.

Es war schon in den 1870er-Jahren in der dicht bebauten Altstadt schwierig, die Grundstücke zu einer schnurstracks laufenden Streckenführung zusammenzufügen. Die Idee, eine Stadtbahn entlang der Leipziger Straße zu bauen, scheiterte an exorbitanten Grundstückskosten. Aber es gab einen Streifen, der genialerweise im Besitz der öffentlichen Hand lag: entlang der alten, 1738, 90 Jahre nach dem Ende des Dreißigjährigen Kriegs niedergerissenen Festungsbollwerke des Baumeisters Johann Gregor Memhardt. Für die neue Bahn schüttete man kurzerhand den parallel zur einstigen Mauer angelegten Festungsgraben zu.

Diesem Umstand verdankt Berlin eine innerstädtische Bahn, die Menschen in Massen auf kurzem Wege transportiert – und das entlang von heutigen Touristen-Lieblingsplätzen wie Alex, Hackescher Markt, Friedrichstraße, mit Ausblicken auf Fernsehturm, Pergamonmuseum, Reichstag. Und Berliner haben auf dieser Strecke das Vergnügen einer Stadttour als Teil des Alltages.

„Nächste Haltestelle: Börse“ – diese Ansage hörten S-Bahn-Fahrer zwischen Alexanderplatz und Friedrichstraße, die seit 1882 dort unterwegs waren. Unter ihnen waren Tausende Börsenhändler, die vom Bahnhof Börse zu Fuß zu ihrem Arbeitsplatz in dem riesigen Gebäude am Spreeufer gelangten. Bomben legten den Finanzplatz 1945 in Trümmer – als Bahnhof Marx-Engels-Platz (1951 bis 1992), dann Hackescher Markt, gehört das historische Bauwerk zu den schönsten Stationen der heutigen S-Bahn.

Es war der preußische Staat der Hohenzollern, der nicht etwa die Gleise einfach auf den zugeschütteten Graben packte, was simpel und billig gewesen wäre. Nein, man gönnte der Stadt 731 gemauerte Stadtbahnbögen mit lichten Weiten zwischen acht und 15 Metern, 597 davon für gewerbliche Zwecke nutzbar. Sie dienten, teils bis heute, als Restaurants, Werkstätten, Lager, Geschäfte, lange Zeit fanden Obdachlose in Viaduktbögen Wärmestuben.

Ausgerechnet in den Bögen gegenüber dem Polizeipräsidium (heute Alexa) zogen Spelunken zwielichtige Gestalten an. Der Bücherbogen am Savignyplatz in den wunderbaren Gewölben ist seit Jahrzehnten ein kulturelles Juwel.

Mit den Viaduktbögen vermied der Bauingenieur Ernst Dircksen, dem der Bau der Stadtbahn übertragen war, das Durchschneiden der Innenstadt durch unüberwindliche Bahngleise: Die Bögen waren von beiden Seiten zu betreten, an vielen Stellen zu durchqueren. Eine Verbeugung vor dem in königlichem Auftrag arbeitenden Baumeister.

1924, vor 100 Jahren, wurde die Berliner Stadtbahn elektrisch, das Streckennetz wuchs und wuchs. Man drückt die Daumen, dass die tüchtige Arbeiterin ihre besten Zeiten nicht schon hinter sich hat. Die Stadt braucht sie. Hoch soll sie leben!

Die rot-gelbe Bahn, mein ständiger Begleiter

Die Berliner S-Bahn wird hundert Jahre alt. Als ich das hörte, kamen mir viele Gedanken in den Sinn. Mit meinen 21 Jahren habe ich nur rund 20 Prozent der Geschichte der S-Bahn erlebt, sie hingegen war 100 Prozent meines bisherigen Lebens präsent. Die Erinnerungen sind daher zahlreich. Als typischer Berliner bin ich nämlich ohne Familienauto aufgewachsen, die rot-gelbe Bahn war mein ständiger Begleiter.

Ich erinnere mich, wie ich mit meinem Onkel in der S-Bahn saß, um zur Geburt meines Bruders nach Lichtenberg ins Sana-Klinikum zu fahren. Wie ich nach meiner Einschulung stolz mit der Zuckertüte an der Frankfurter Allee einstieg und wie ich mit meinem Seepferdchen an der Landsberger Allee ausstieg. Auch zu meinem ersten Fußballspiel in der Alten Försterei, meinem ersten Wettkampf im Velodrom und meinem ersten Konzert in der Uber-Arena (damals noch Mercedes-Benz-Arena) – die S-Bahn war immer dabei.

Wenn ich meine Großeltern besuchen will, heißt es auch heute: S-Bahn fahren. Wenn ich in den Club gehe, lautete die Ansage: „Nächste Station: S- und U-Bahnhof Schönhauser Allee“. Und auch wenn ich zur Arbeit muss, begrüßt mich die rot-gelbe, oft mit Graffiti besprühte Bahn immer wieder freundlich.

Sogar in meiner Identifikation spielt sie eine Rolle. Wo wohne ich? Na, S-Bahnhof Nöldnerplatz. Wo bin ich zur Schule gegangen? Andreas-Gymnasium. Sagt dir nichts? Die ist am S-Bahnhof Ostbahnhof. Wo hatte ich meinen ersten Kuss? In der S5 nach Mahlsdorf.

Die S-Bahn hat mich geprägt. Und auch ich habe mein Bestes gegeben, um auch auf ihr Spuren zu hinterlassen. Mit einer Platzwunde bin ich blutend in ihr ins Krankenhaus gefahren. Nach meinem ersten Schluck Alkohol beim „Ringbahnsaufen“ hätte ich fast auf das türkis-graue Muster gespuckt. Und ein paar Jahre später, als mir zum ersten Mal das Herz gebrochen wurde, habe ich auf dem Sitzpolster meine Tränen vergossen.

Selbst als ich vor vier Jahren Berlin verließ, um im Ausland eine neue Heimat zu finden, war sie es, die mich zum Flughafen brachte. Also wünsche ich ihr alles Gute zum Geburtstag. Möge das Gefühl bleiben, erst zu Hause zu sein, wenn ich das Tuten der Türen und das Quietschen der Gleise höre.

Melancholie in West-Berlin

Es ist lange her: 1981 kam ich in diese Stadt. Genauer gesagt: nach West-Berlin. Und schon bald lernte ich, dass die Dinge hier anders sind. Ich musste vom Bahnhof Zoologischer Garten nach Tegel, wo ich in der Jugendherberge Ernst Reuter am Hermsdorfer Damm ein Bett gebucht hatte. Auf dem Stadtplan sah ich, dass ich über Friedrichstraße nach Tegel fahren kann – mit der S-Bahn. Und so lief ich im Bahnhof Zoo wieder nach oben, zum S-Bahn-Steig. Dort merkte ich, dass ich in einer anderen Welt gelandet war.

Auf dem Hardenbergplatz vor dem Bahnhof tobte der Verkehr, an den Bushaltestellen der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) drängten sich die Fahrgäste. Auch bei der U-Bahn schien der Andrang groß zu sein. In der altertümlich wirkenden S-Bahn, die schnaufend am Zoo eingefahren war und kurz darauf mit singenden Motoren in Richtung Osten Fahrt aufnahm, waren dagegen die meisten Plätze unbesetzt. Die Kundschaft erinnerte an einen Altenheimausflug. Junge Menschen fuhren nicht mit.

Noch leerer war die S-Bahn nach Heiligensee, in die ich im Labyrinth des Bahnhofs Friedrichstraße (in dem es ungewöhnlich roch) wechselte. In diesem Zug war ich fast allein – an einem Arbeitstag gegen 14.30 Uhr! Auch auf den S-Bahnhöfen, an denen er stoppte, war kaum jemand unterwegs. Ich konnte das Kleinpflaster, die gusseisernen Stützen der Bahnsteigdächer und die hölzernen Stationsschilder, von denen die Farbe blätterte, ungehindert betrachten. Das war keine Tristesse, das waren Erinnerungen an große Zeiten, die in West-Berlin offenbar nicht mehr von Interesse waren.

Es war ein erster starker Eindruck, der mich in den Bann zog. Berlin ist anders, das lernte ich bald auch in anderen Zusammenhängen. Doch die S-Bahn in West-Berlin: Das war eine Gegenwelt, die damals wie eine Museumsbahn anmutete, aber einen viel ernsteren Hintergrund hatte. Ich lernte, dass sie von der Deutschen Reichsbahn betrieben wurde. Das DDR-Unternehmen hatte den Namen nicht geändert, um im Westen einen Fuß in der Tür zu behalten – musste aber gerade bei der S-Bahn enorme Defizite in Kauf nehmen. Zumal nach dem Mauerbau 1961, als viele West-Berliner den Boykottaufrufen folgten.

Die Agonie, die dieses verfemte, vergessene Verkehrssystem in diesem Teil der Stadt einst verströmte, ist seit langem Vergangenheit. Mit ihr ist die Melancholie verflogen. Die S-Bahn, von den Berlinern kritisiert, aber auch vermisst, wenn sie nicht fährt, ist wieder in der Gegenwart und in Richtung Zukunft unterwegs. Doch die Erinnerung an die Zeit, als sie so intensiv wie kaum etwas anderes eine Verbindung in die Berliner Vergangenheit herstellte, wird nicht verblassen.

Berliner Zeitung 09.08.2024  

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Eine Ikone, in der sich Nachtschwärmer und Frühschichtler die Hand reichen: Die Berliner S-Bahn wird 100 Jahre alt

Berlin feiert vier Tage lang seine S-Bahn mit einem Fest. Ein Blick zurück auf ein Verkehrsmittel, das Weltgeschichte geschrieben hat.

von Max Sprick

Deutschland abgerückt, Geldfluss und Handel erholten sich, die Wirtschaft zog an. Und Berlin wurde zur wohl schillerndsten Metropole der Welt: Vier Millionen Menschen lebten in der deutschen Hauptstadt und wollten sich nach dem verlorenen Krieg neu erfinden. Die Berliner Nächte wurden so lang, dass Filme, Serien und Bücher von ihnen handeln.

Die Nächte wären vielleicht kürzer und ruhiger geblieben, hätte es im Sommer 1924 nicht noch eine Neuerung in der Millionenmetropole gegeben: die Berliner S-Bahn. Seit dem 8. August 1924 bringt sie die vielen Menschen in die Stadt und aus ihr heraus. Zu jeder Tages- und Nachtzeit. Nun feiert die Bahn ihren 100. Geburtstag, und die Berliner würdigen sie als Kultobjekt.

«Berliner Ikone»

Die Berliner S-Bahn hat alles miterlebt: die Wilden Zwanziger, den Nationalsozialismus, den Zweiten Weltkrieg mit der Zerstörung Berlins und die Teilung der Stadt in Ost und West. Weltgeschichte passierte um sie herum, die S-Bahn fuhr weiter.

Peter Buchner, Geschäftsführer der S-Bahn Berlin GmbH, sagt: «Seit 100 Jahren begleitet und prägt die S-Bahn die Geschichte der Hauptstadt und ist selbst zu einer Berliner Ikone geworden.»

Am 8. August 1924 fuhr zum ersten Mal eine elektrisch betriebene Bahn durch Berlin. Sie fuhr vom damaligen Stettiner Bahnhof, der nun Nordbahnhof heisst, nach Bernau. Eine Strecke, für die die Bahn 22 Minuten benötigt.

Zwar hatte es schon früher Versuche gegeben, in Berlin eine S-Bahn zu betreiben, doch die Inbetriebnahme des Abschnitts nach Bernau mit einer Stromschiene und Gleichstrombetrieb gilt als wahre Geburtsstunde der heutigen S-Bahn.

Am Donnerstag beginnt deshalb das «100 Jahre S-Bahn»-Festival, mit Veranstaltungen, die sich über vier Tage strecken. Es gibt Sonderfahrten, historische Züge und Live-Auftritte von Berliner Künstlern. Einer davon, der Rapper Romano, schrieb eigens ein Lied für die Bahn.

Romano rappt: «Am Fenster stehen, die Wolken zählen, auf der Arbeit fehlen und dafür S-Bahn fahr’n.»

Berlinerinnen und Berliner, Alt und Jung, verbinden persönliche Erlebnisse mit der Bahn. Sie gehört zur Stadt wie der Fernsehturm und der Potsdamer Platz. Und jeder war schon in der Bahn unterwegs: betrunkene Partygänger, singende Strassenmusiker, elegant gekleidete Bankangestellte. Sie alle standen schon am Fenster und zählten Wolken.

Das «S» als Markenzeichen der modernen Mobilität

Die Berliner S-Bahn war die erste elektrische Bahn Deutschlands. Der jüdischstämmige Grafiker Fritz Rosen kreierte 1930 eigens ein Logo für sie. Heute ziert es S-Bahnhöfe und Züge im ganzen Land: ein weisses, bauchiges «S» auf einem runden, grünen Hintergrund. Das S-Bahn-Symbol sollte ein Markenzeichen sein, das die modernen Elektrozüge von der seit 1902 etablierten U-Bahn abhebt.

Doch obwohl jeder Nahverkehrsreisende in Deutschland das Zeichen schon gesehen hat, ist vielen unklar, was es bedeutet.

Die Bahn fuhr anfangs als «Stadtschnellbahn», die betreibende Stadtverwaltung aber wollte das Verkehrsmittel von der gebräuchlichen Bezeichnung «Schnellbahn» anderer Züge abgrenzen. Deswegen wurde festgelegt: Das «S» in S-Bahn steht seit 1930 für Stadtbahn.

1,5 Millionen Fahrgäste fahren heute laut der Deutschen Bahn pro Werktag mit der Berliner S-Bahn – auf einem laut den Angaben einzigartigen Netz: 340 Kilometer lang, mit Nord-Süd- und Ost-West-Linien und der Ringbahn, die um die Innenstadt fährt.

Doch Rainer Genilke, der Infrastrukturminister des Landes Brandenburg, sagte anlässlich des Jubiläums, die Berliner S-Bahn sei mehr als das, sie sei ein «emotional verbindendes Verkehrsmittel, das sich nicht nur in Zahlen und Fakten messen lässt».

Hört man sich nun unter Berlinern und Berlinerinnen um, löst die Bahn zwei Emotionen aus: Liebe und Hass. Die einen bezeichnen die S-Bahn als Katastrophe: Sie sei schmutzig, kaputt, zu spät oder unzuverlässig. Die anderen bezeichnen sie als ein sicheres, die ganze Stadt umfassendes Verkehrsmittel für die Menschen, die Berlin besuchen oder dort wohnen.

Doch die Bahn war nicht immer ein Netz, das die Berliner aus allen Stadtvierteln verband. Ihr Netz war, genau wie Deutschland und Berlin, keine Einheit.

Die Nationale Volksarmee der DDR besetzte in der Nacht vom 12. auf den 13. August 1961 Stellwerke im Grenzgebiet und unterbrach die Gleise, die Ost- und Westberlin verbanden. Einige Bahnhöfe wurden sofort stillgelegt und zu «Geisterbahnhöfen».

Im November 1989 spielte sich auch in der S-Bahn Weltgeschichte ab. Die DDR lockerte ihr Reisegesetz, und die Ostberliner strömten in Richtung Westen. Die Züge der S-Bahn waren schnell überfüllt. Ab dem 2. Juli 1990, als die Grenzkontrollen zwischen den beiden Teilen Berlins endeten, fuhr die Berliner S-Bahn wieder durchgehend auf allen Strecken durch Berlin. Nach fast 30 Jahren Unterbruch.

Heute vereint sie alle Menschen der nun wieder schillernden Metropole. Bankangestellte und Punker, Nachtschwärmer und Frühschichtler – sie alle treffen sich in der S-Bahn. Die 100 Jahre nach ihrer Jungfernfahrt nichts von ihrer Bedeutung eingebüsst hat.

Peter Buchner, der Geschäftsführer der S-Bahn, sagt: «Gäbe es die S-Bahn nicht schon, wir müssten sie erfinden.» Kein anderes Verkehrsmittel könne so viele Menschen zwischen Stadt und Umland transportieren. Und dies auch noch umweltfreundlich.

neue Züricher Zeitung 08.08.2024 

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S-Bahn in Berlin und Brandenburg: Große Zukunftsfragen zum 100.

Berliner S-Bahn feiert Jubiläum – und im Hintergrund wird um die Finanzierung gerungen

Nicolas Šustr, 09.08.2024, 13:54 Uhr

Zum 100. Jubiläum versprüht S-Bahn-Chef Peter Buchner Optimismus: »Ich bin davon überzeugt: Das beste Jahrhundert der Berliner S-Bahn steht noch bevor«, schreibt er auf der Plattform Linkedin. Was er nicht schreibt, das Unternehmen aber sehr bewegt, ist die laufende Ausschreibung für zwei Drittel des Berliner S-Bahn-Netzes. Der Termin für die Abgabe der definitiven Angebote ist laut Beobachtern erneut verschoben worden. Zum x-ten Mal. Statt am 3. September, wie es noch kürzlich der Stand war, ist Abgabeschluss nun am 7. Oktober.

Diesmal soll es nicht an neuen Bieterfragen im hochkomplexen und juristisch wackligen Vergabeverfahren liegen, sondern an der Berliner Haushaltslage. Dem Vernehmen nach wird geprüft, wie die Finanzierung der neuen Flotte von mindestens 1400 Wagen neu geregelt werden kann. Die Kosten für die neuen Wagen wurden laut einer vertraulichen Hauptausschuss-Unterlage vom Januar auf 5,4 Milliarden Euro geschätzt.

Bisher war der Plan, dass das Land seine Landesanstalt Schienenfahrzeuge Berlin mit einem Grundstock an Kapital ausstattet und diese dann Kredite aufnimmt, um auf die nötige Summe zu kommen. In der Regel sind 20 Prozent Eigenkapital nötig – also rund 1,1 Milliarden Euro. Solche sogenannten Transaktionskredite werden nicht auf die Schuldenbremse angerechnet. Das Geld kommt wieder rein durch Nutzungsentgelte über die erwartete 30-jährige Betriebszeit der Fahrzeuge.

Die zum Jahresanfang noch bestehenden Rücklagen der Anstalt von 200 Millionen Euro werden im aktuellen Doppelhaushalt 2024/2025 schon planmäßig geplündert. Mit einer Neuregelung könnten 2025 weitere 80 Millionen Euro frei werden. Ende Juni hatte die Landesanstalt eine Ausschreibung für »Beratungsleistungen zur Strukturierung und zum Vertragsmanagement von Fahrzeugfinanzierungen« veröffentlicht.

Doch bei den Feierlichkeiten ist von den nicht abreißenden Schwierigkeiten bei der Ausschreibung kaum etwas zu spüren. Allerdings sind das Land Berlin und die Stadt Bernau die Ausrichter des Programms, nicht die DB-Tochter S-Bahn Berlin GmbH. Für das Unternehmen gebe es angesichts der Unsicherheit wenig zu feiern, erklärt dessen Chef Peter Buchner seit Monaten.

Die Augen fast aller Ehrengäste leuchten, als sie im Berliner Tunnelbahnhof Nordbahnhof am Donnerstag den Sonderzug des Vereins Historische S-Bahn Berlin erblicken. Zwei Wagen sind 86 Jahre alt, die anderen zwei sogar stolze 96 Jahre. Es gibt Abteile 2. Klasse – mit Mahagonifurnier und dick gepolsterten Bänken und die Holzklasse 3. Klasse, außerdem Raucher- und Nichtraucherabteile.

Der Zug kann überhaupt nur fahren, weil das Land Berlin die hohen Kosten für die Ausrüstung mit dem aktuellen Signalsystem ZSB übernahm, die der Verein der S-Bahn-Liebhaber nie hätte stemmen können.

100 Jahre und ein paar Stunden nach der ersten elektrischen Fahrt vom damaligen Stettiner Bahnhof in Berlin nach Bernau setzt sich der Sonderzug in Bewegung. Der Empfang am Ziel ist beeindruckend. Hunderte erwarten den Zug am Bahnhof, auf dem Vorplatz ist ein Stadtfest organisiert, das bis Sonntag dauern soll. Man hat den Eindruck, dass man sich in Bernau wirklich sehr über das Jubiläum freut, während in Berlin eher pflichtgemäß gefeiert wird. Im Kantorhaus am Rathaus wurde auch eine liebevolle kleine Ausstellung zur S-Bahn eröffnet, in der man sich sogar in einem originalen Fahrsimulator in die Rolle des Lokführers begeben kann.

»Wir als Bernauer sind natürlich auch stolz, dass wir genau dieses Stück technische Geschichte, Infrastrukturgeschichte mit betreiben konnten«, sagt Bürgermeister André Stahl (Linke). »Was wir uns allerdings natürlich gemeinsam wünschen, ist, dass diese S-Bahn weiterentwickelt wird, dass sie stabil fährt, dass wir es schaffen werden, die Kapazitäten auf dieser S-Bahn auszubauen und dass wir natürlich auch die Taktung dieser S-Bahn in diesem Zehn-Minuten-Takt ausbauen«, so Stahl weiter.

Derzeit fährt die S2 nur alle 20 Minuten nach Bernau – ab der Berliner Stadtgrenze ist die Strecke nur eingleisig. Außerdem ist der Betrieb sehr unzuverlässig, denn auch kleine Verspätungen übertragen sich auf den Gegenzug und schaukeln sich schnell auf, da es nur eine einzige Ausweichmöglichkeit am Bahnhof Zepernick gibt. Nicht viel anders sieht es in Oranienburg, Königs Wusterhausen oder Strausberg aus. Potsdam hat zwar einen Zehn-Minuten-Takt, der wegen langer eingleisiger Abschnitte jedoch

ebenfalls nicht verlässlich funktioniert.

»Das beste Jahrhundert der Berliner S-Bahn steht noch bevor.«, Peter Buchner Geschäftsführer S-Bahn Berlin

Brandenburgs Infrastrukturminister Rainer Genilke (CDU) verweist sogleich auf das Eisenbahn-Infrastrukturprogramm i2030, mit dem zunächst Grundlagenuntersuchungen für die Zehn-Minuten-Takte beauftragt worden sind. »Es geht an der Stelle voran, wenn auch manchmal zu langsam«, sagt er.

Genilke erinnert an die Zeit vor 100 Jahren, als Bernau gerade einmal 9600 Einwohner zählte. Heute sind es über 44 000. Der Erste Weltkrieg war erst sechs Jahre vorbei und Deutschland sei es nicht gut gegangen nach diesem Krieg. »Und man hat sehr großzügig, auch angefangen natürlich mit der Bahn, gedacht und diese Investitionen getätigt, weil man wusste, dass man eine Hauptstadt und die Region um sie nur mit einer guten Mobilität enger miteinander verbinden kann«, so Genilke. »Da müssen wir wieder hinkommen«, fordert er. Heute werde gestöhnt, »weil wir ja ganz besondere Belastungen haben«.

»Extrem wichtig« sei für Brandenburg die Anbindung mit der S-Bahn wegen der Verflechtung mit Berlin, sagt der Minister zu »nd«. »Wir haben einen engen Bezug, obwohl der Brandenburger Anteil an der Gesamtlänge nur zehn Prozent ausmacht«, bekräftigt Genilke. Geplant wird im Rahmen von i2030 unter anderem die Verlängerung der S-Bahn von Teltow nach Stahnsdorf.

Nicht alle wollen die S-Bahn vor der Tür haben. Die Veltener Stadtverordneten sprachen sich 2020 mehrheitlich gegen die Verlängerung der S-Bahn von Hennigsdorf aus. Man wolle keine »Berliner Vorstadt« werden, so die Begründung. Geplant wird weiter.

Auch im Havelland steht man der geplanten S-Bahn-Verlängerung von Berlin-Spandau nach Falkensee kritisch gegenüber, da sich einige Reisezeiten im Vergleich zu Regionalzügen verlängern. Dass die Regionalzüge wegen der Trassenkonkurrenz zum Fernverkehr eher im Stolpertakt fahren, ändert an der Skepsis nichts.

Vor acht Jahren zog die S-Bahn Berlin den Vergleich mit Strausberg. Damals lebten knapp 26.000 Menschen in der Stadt östlich von Berlin, die S-Bahn zählte täglich 13 400 Fahrgäste. In Falkensee mit damals knapp 42.000 Einwohnern nutzen nur 8600 Menschen pro Tag die Regionalzüge.

Und obwohl Berlin und Brandenburg sich vor Jahren auf die Planung der S-Bahn-Verlängerung verständigt haben, zeigt sich auch Infrastrukturminister Rainer Genilke zurückhaltend. »Die Falkenseer bevorzugen natürlich die Regionalverbindungen, ist gar keine Frage, weil es natürlich auch die schnellere Verbindung ist«, sagt er zu »nd«. Die Reisezeiten müssten »natürlich auch ein Begutachtungsgrund sein«, so Genilke weiter. Es müsse auch klar sein, dass vorausschauend diese Infrastruktur dasteht, wo wir sie auch brauchen. »Und dass wir uns nicht darüber ärgern, dass wir an der falschen Stelle investieren.«

neues Deutschland 09.08.2024  

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(c) letzte Änderung 13.08.2024